Wenn man sich über Astrologie unterhält, taucht unweigerlich die Frage nach dem freien Willen auf. Sie ist zwar berechtigt, aber warum stellt man sie sich nicht auch in anderen Zusammenhängen? Vermutlich, weil man den sogenannten freien Willen viel selbstverständlicher zu haben glaubt als es der Fall ist. Astrologie hin – Astrologie her: der moderne westliche Mensch, der mit einer Knopfdruck-Mentalität in der Konsum-Gesellschaft lebt, scheint vergessen zu haben, durch wie viele Umstände seine Lebensqualität und sein Weg bedingt sind.
Hatte er eine einigermaßen erträgliche Kindheit, genoss er eine gewisse Ausbildung und verfügt er über ein Mindesteinkommen, so ist er zwar verglichen mit dem „Rest“ der Menschheit relativ privilegiert, scheint sich jedoch dessen nicht besonders oder nicht durchgehend bewusst zu sein und fühlt sich recht „frei“. Wir sind schon allein dadurch bedingt, dass wir als Menschen und nicht als Tier, als Mann oder als Frau in ein bestimmtes Land und in eine bestimmte Zeit geboren wurden. Wir können nicht fliegen oder das Geschlecht aussuchen, wir haben eine bestimmte Volksmentalität, leben das Erbgut unserer Vorfahren weiter, lernen auf bestimmte Weise auf die Familie und die Gesellschaft Rücksicht zu nehmen.
Wir haben in diesem Land andere Gesetze und Chancen als in einem anderen, jetzt andere als vor 300 Jahren usw. Auch die Position in der Geschwisterfolge ist prägend. Kurzum wir sind in biologischen, ethnischen, klimatisch-geographischen, genetischen, familiären, historischen, religiösen und sozialen Fragen bereits derart strukturiert, dass von freiem Willen ohnehin nicht gesprochen werden kann.
Ein paar Temperatur-Grade weniger oder eine etwas anders zusammengesetzte Atmosphäre und schon sind wir nicht mehr lebensfähig. Wir hören von den Schwierigkeiten des Lebens in der Wüste oder an den Polen und kennen die Diskussion um die Voraussetzungen für Leben auf dem Mond, der Venus oder dem Mars. Dazu kommt der „Zeitgeist“, dem jeder mehr oder weniger ausgesetzt ist.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer meinte sinngemäß: „Man kann zwar tun, was man will, aber man kann nicht wollen, was man will.“ Kurzum der wirklich freie Wille ist eine Illusion. Aufgrund astrologischer Konstellationen kommt keine zusätzliche Konditionierung zu denen von Erziehung und Genetik zustande. Die Planeten – geschweige denn das Horoskop – schaffen keine Bedingungen, sie zeigen bloß an, was auf anderen Ebenen und in anderen Wissenschaften anders benannt wird, aber längst existiert. Es wäre vermessen zu sagen, im Horoskop wäre alles bis ins Letzte genau zu sehen.
Erkennbar sind jedoch die Strukturen der Familie, die Kriterien der Partnerwahl, soziale Reaktionsmuster, Wahrnehmungsraster, das Verhältnis von Introversion und Extraversion, gesundheitliche Anlagen, berufliche Potentiale und innere Uhren, d.h. Prinzipien, Möglichkeiten, Vorlieben, Einschränkungen, Entwicklungsabschnitte, erreichbare Ziele und individueller Sinn. Selbst wenn wir Eigenschaften und Betätigungsfelder als positiv und als unsere ganz eigenen begreifen, beruhen sie auf mitgebrachten (z.B. genetischen oder kammischen) bzw. vorgefundenen (z.B. geografischen, historischen oder gesellschaftlichen) Vorgaben, die der Vorstellung eines freien Willens widersprechen.
Das Kosmogramm ist ein Abbild eigener Strukturiertheit, nicht deren Ursache. Befragt man das Horoskop zwecks Orientierungshilfe, so schaut man wie in einen Spiegel, in dem man mit fruchtbarem Abstand zum Alltag und zur eigenen Subjektivität sein Leben betrachtet. Dieser Spiegel hilft lediglich, Zusammenhänge zu erkennen, Schwerpunkte zu setzen und Zeitfenster besser zu nutzen. Er ist für meine Bedingtheiten nicht verantwortlich (nach dem Motto: „der böse Saturn oder der mächtige Pluto sind schuld“). Astrologie ist ein nützliches kybernetisches Denkmodell, der Mensch ist nicht die Marionette der Planeten.
Man kann mittels Bewusstseinserweiterung – etwa durch Meditation, psychologische Reflexion oder durch Selbsterkenntnis per Psychologischer Astrologie – jedoch so viel Spielraum im eigenen Strukturiertsein erreichen, dass man immerhin subjektiv von einem „relativ befreiten“Willen sprechen kann.
Was wir als unseren freien Willen empfinden, ist der Spielraum, den wir uns innerhalb der vorgegebenen Strukturen im Laufe der Zeit geschaffen haben. Im Verhältnis zu den vielen Bedingungen des Lebens ist diese mittels Einsicht und Kreativität „erarbeitete bedingte Freiheit“ unsere Lebensleistung, die uns viel bedeuten kann.